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Muttertag als Halbwaise – Wenn dich Werbeanzeigen zum Weinen bringen

30. April 2022 • Bad Saarow

Muttertag als Halbwaise

Wenn dich Werbeanzeigen zum Weinen bringen

Als ich letztens durch meinen Instagramfeed scrollte, blieb ich bei einer gesponserten Werbeanzeige zum Muttertag hängen. Was sich für Einige vielleicht als langweiliger Post outet, weckte in mir Gefühle, die über einen längeren Zeitraum im tiefsten Inneren schlummerten.

Am 8. Mai 2022 ist Muttertag

Der Muttertag steht vor der Tür – wie eigentlich jedes Jahr – und die Marketingbudgets gehen drauf für Werbeanzeigen, die dich dazu bringen sollen, deiner Mama etwas Gutes zu tun, sie mit einem Fotobuch zu beschenken, einen schönen gemeinsamen Tag zu verbringen oder Blumen zu kaufen.

Blumen und Illusionen

Letzteres werde ich vermutlich auch tun. Allerdings werde ich diese nicht persönlich überreichen können, denn ich bin eine von den Menschen, der diese Geste wohl für den Rest meines Lebens eine Illusion bleiben wird. Mein Strauß wird in einem Blumenhalter landen, den ich in die Wiese stecke, denn meine Mama ist vor knapp zwei Jahren sehr überraschenderweise und von einer Sekunde zur nächsten gestorben.

Vom Einzelkind zur Halbwaise

Ich trage seit diesem Tag den Titel „Halbwaise“ und mir ist manchmal gar nicht bewusst, wie sehr dieser Zustand an mir nagt, bis ich daran erinnert werde. Umso mehr schmerzt es mich mittlerweile mit anzusehen, wie in meinem Freunden- und Bekanntenkreis die Beziehung zu den Eltern, insbesondere zur Mutter, abgebrochen oder vernachlässigt werden. Das Tragische an alldem ist, dass ich damals ebenfalls eine sehr schwierige Beziehung zu meiner Mama pflegte, weil wir nicht mehr miteinander auskamen.

Die Beziehung zwischen Mutter und Tocher ist nicht immer leicht. Vor allem, wenn das kleine Mädchen zur Frau wird und es beginnt sein eigenes Leben zu führen.

Sie wollte mehr von mir, als ich ihr geben konnte, denn ich wollte mein Leben selbstständig erleben und nicht fremdgesteuert durch die Welt gehen. Ich wollte über mein Leben selbst entscheiden ohne das ständige Gefühl der Kontrolle oder der Angst, sie bitter zu enttäuschen und auf die Palme zu bringen. Kurzum – wir hatten unsere Probleme miteinander, was dazu führte, dass wir ein halbes Jahr vor ihrem Tod nach einem heftigen Streit auseinander gingen. Besser gesagt ich, da ich mit den Werten und der Lebenseinstellung meiner Mama nicht mehr einverstanden war. Ich brauchte Abstand.

Der letzte Anruf

Zu meinem Geburtstag im Juni erhielt ich von ihr einen Anruf, den ich verpasste. Wir befanden uns derzeit auf einem gemieteten Boot im Urlaub und der Motor war so laut, dass ich das Telefon nicht hörte. Meine Mama hinterließ mir eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, in der sie mir zum Geburtstag gratulierte, mich aber erzürnt wissen ließ, dass ich ja wissentlich nicht den Hörer abgenommen hätte und sie mir ja wohl nichts bedeute. Keine neue Reaktion für mich. Dass das nicht stimmt, hätte sie wissen müssen aber das war ihre Art mir zu sagen, dass sie mich liebt. Ich konnte das aber nicht in der Form ertragen, es war zu viel Druck für mich. Wieder ein Vorwurf und das an meinem Geburtstag! Ich bedankte mich via Threema-Message für die „nette“ Nachricht und ging mit meinem (damals noch) Freund und einem Teil seiner Familie anlässlich meines Geburtstags essen und schlurfte zur Feier des Tages Champagner.

Dass das die letzte Möglichkeit gewesen wäre, jemals wieder direkt mit meiner Mama zu sprechen, konnte niemand ahnen. 

Böse Vorahnung

Zwei Wochen später kam der Anruf meines Papas. Ich verpasste auch diesen Anruf zunächst, da ich bei der Arbeit war. Als ich aber sah, dass er mich versuchte telefonisch zu erreichen, widerfuhr mich eine böse Vorahnung, dass etwas nicht stimmte. Mein Bauchgefühl sollte Recht behalten und ich fand mich noch an diesem Tag betrunken auf dem Teppichboden meines Papas wieder, mit verquollenen Augen und weinend wie ein Baby, das um Hilfe schreit.

Abschied nehmen - für immer

Nachdem meine Mama im Koma auf der Intensivstation lag, mein Papa, mein Freund und ich uns zwei Tage lang versuchten gegenseitig Hoffnung zu machen, standen wir davor die wohl härteste Entscheidung zu treffen, die wir jemals hätten treffen müssen. Der Zustand meiner Mama verschlechterte sich, die Ärzte gaben uns keine Aussicht auf Besserung. So kam es dazu, dass wir uns verabschiedeten. Betäubt und abwesend bat ich die Schwester mir eine Haarlocke abzuschneiden. Dann hielt ich die Hand meiner Mama, die sich kalt und aufgedunsen anfühlte. Es fühlte sich surreal an, wie ich mit ihr redete. Doch es nützte nichts, denn sie konnte mich nicht mehr hören. Das hätte sie nie wieder, da ihr Gehirn nach den Wiederbelebungsversuchen zuvor zu lange ohne Sauerstoff versorgt war. Durch die Unterversorgung wurden Areale im Gehirn zerstört, die es ihr unmöglich gemacht hätten jemals wieder zu hören, zu sehen und zu sprechen. Zudem strebten Ihre Überlebenschancen gegen null. Geistesabwesend und verstört fuhren wir drei nach Hause und 20 Minuten später erhielten wir den Anruf aus dem Krankenhaus.

Nie wieder, nie wieder

Die Gefühle und Gedanken in den Tagen, Wochen und Monaten danach reichten von Fassungslosigkeit, Reue und tiefer Trauer. Egal wie ich mich drehte und wendete, ich kann es nicht ändern, das Geschehene ist unwiderrufbar und ich musste lernen es zu akzeptieren. Dazu gehört auch der Streit davor und meine verpasste Gelegenheit ihr zu sagen, dass ich sie liebe.

Ich musste lernen, dass mich meine Mama wohl nie als Braut sehen würde. Sie würde auch niemals Oma werden und ihre Enkelkinder kennenlernen (die es sicher irgendwann geben werden wird…). Meine Mama würde mich nie wieder anrufen, anschreien, mir Selfies oder diese nervigen Teddy-Textbilder bei Threema schicken. Sie backt nie wieder meinen Lieblingskuchen zum Geburtstag oder kocht mein Lieblingsgericht. Ich werde auch nie wieder diese kindlichen Geburtstagskarten bekommen, deren Briefumschlag sie mit kitschigen Stickern zuklebte. Ihre Stimme wird zu einer Erinnerung werden, genauso wie ihr Duft und das Gefühl ihrer Umarmung.

Ich denke noch jetzt an unseren anstrengenden letzten Wien-Urlaub, als wir im Innenhof des Hotels saßen und sie mir die Haare kämmte. Es fühlte sich an, als reißt sie mir die Haare aus aber diese vertraute Geste wird mir von nun an auf Ewig verwehrt bleiben. Auch der Moment, als von uns das letzte gemeinsame Foto geschossen wurde, werde ich niemals vergessen. Diese und jene Erinnerungen sind es, die mich zurückholen und mir bewusst machen, wie kostbar das Leben ist.

Danke, Schwiegermama

Doch nach all der Zeit kann ich sagen, dass trotz des bitteren Verlusts von meinen Freund:innen und meiner „neuen“ Familie bedingungslose Liebe empfing. Besonders dankbar bin ich aber über die Liebe meiner Schwiegermama. Sie hat mich seit dem Tag unseres Kennenlernens in 2014 akzeptiert und in ihr Herz geschlossen. Ich ebenfalls. Dabei hatte ich vor dieser Begegnung solche Angst, dass ich zitterte.

Seitdem ist es meine Schwiegermama, die mich noch mehr unterstützt, als schon vor dem Tod meiner Mama. Sie war diejenige, die mit mir das Brautkleid aussuchte und mit mir heulte, als wir fündig wurden und sie wird diejenige sein, die ihre Enkel:innen bespaßen und betüddeln wird. Natürlich wird sie meine Mama nicht ersetzen können. Doch ist sie für mich diejenige, die diese Rolle nun für mich einnimmt und die einzige Mama, die ich jetzt noch habe.

Danke, Werbeanzeige

Diese spröde Werbeanzeige löst in mir mehr aus, als ich dachte. Sie erinnert mich daran, wie schwer es ist, einen geliebten Menschen zu verlieren. Wie schwer es ist, über den Verlust hinwegzukommen und damit umzugehen. Allerdings zeigt sie mir auch, dass ich trotz all dem Menschen um mich habe, die mich lieben und damit meine ich vor allem meine neue Mama.

Muttertag als Halbwaise

Es ist okay Gefühle zu haben und sie zu zeigen, es ist okay traurig zu sein, es ist okay zu weinen.

Was mich diese Erfahrung lehrt ist, dass es nicht auf die DNA ankommt, wen du als Mama oder Mutter siehst. Klar, dies spielt rein biologisch eine Rolle und du würdest ohne diesen Zellpart nicht existieren. Dennoch steht hinter dem Begriff „Mama/Mutter“ viel mehr. Es ist die bedingungslose Liebe. Zu wissen, dass da jemand immer für dich da ist und an deiner Seite steht – in guten, wie in schlechten Zeiten. Jemand, die mit dir lacht und weint, dich überrascht und mit der du über alles reden kannst.

Drum haltet eure Mamas fest, eure biologische sowie nicht-biologische und ehrt sie nicht nur an diesen einen Tag im Jahr, sondern im restlichen Jahr auch! Schickt ihr mal ein Herz, geht mit ihr essen, bringt ihr einen Espresso vorbei und schätzt euch glücklich diesen Menschen in eurem Leben zu haben – so lange wie es nur geht.

Geht es dir vielleicht genauso?

Wir können uns gerne hierzu austauschen. Hinterlass mir gerne eine Nachricht an info@cheriexplore.de!